Konzept
Geist Gegen Gene

Anfang der 60 er Jahre fand in London ein jahrelang viel zitiertes Symposion zur "Zukunft des Menschen" statt. 27 hochkarätige - vornehmlich Naturwissenschaftler – darunter nicht eine einzige Frau - debattierten die Folgen einer biologischen Revolution. Wissenschaftliches und Visionen zu Gesundheit und Krankheit, Eugenik und Genetik, aber auch zur Zukunft des Geistes wurden hinsichtlich einer unterstellten Bevölkerungsexplosion und eines zu verhindernden genetischen Verfalls diskutiert. Das anvisierte Ziel bestimmte die Perspektive: durch die Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse sollte die Lebensqualität maßgeblich zu bessern sein. Science-Fiktionen im Namen des Humanismus wurden formuliert. Viele der hybriden Visionen sind mittlerweile umsetzbar geworden und haben entsprechend ihrer kommerziellen Marktauglichkeit gesellschaftliche Realität produziert.

Zum Millennium rufen wir angesichts neuster biotechnologischer Entwicklungen auf, erneut über die Zukunft des Menschen zu diskutieren. Vom 29. Juni - 2. Juli 2001 findet ein internationales Symposion mit dem Titel "Geist gegen Gene" in Berlin statt, zu dessen Mitgestaltung Sie herzlich eingeladen sind. Fiktionale Science ist gefragt.

Ein Forum ist zu eröffnen, das sich jenseits der herrschenden Paradigmen erlaubt, unter Umständen nicht marktfähiges Wissen zu produzieren. Denn frei nach Searle ist das Bewußtsein intrinsisch und läßt sich nicht eliminieren. Seine Patentierung ist – wie die des Geistes – glücklicherweise ausgeschlossen. Nutzen wir diese Chance der Wissens-Schaffenden zur Transzendenz, anstatt uns auf die Immanenz der zweckorientierten biotechnologischen Wissensproduktion zu beschränken.

Ein solches Unterfangen gewinnt um so mehr Bedeutung, da die "Biological Psychiatry" zeitgleich ihren 7ten Weltkongreß in der Bundeshauptstadt ausrichtet. Während Joshua Lederberg 1963 nur freudig ankündigte: Jetzt können wir den Menschen definieren und zwar genotypisch, verkündet die Biologische Psychiatrie mit steigender Popularität: Sie könne das Verhalten der Menschen mittels Genanalysen voraussagen. Gleichwohl diese "Tatsache" wissenschaftlich nicht beweisbar ist, mithin einem Mythos entspricht, bezeugt die deutsche Geschichte das verhängnisvolle Potential eugenischen Gedankengutes, das sich hinter der damit ermöglichten Klassifizierung in erwünschtes und unerwünschtes Verhalten verbirgt. Allein zwischen 1939 und 1947 wurden mehr als 275 000 als psychisch krank stigmatisierte Menschen in Deutschland durch ein von der Psychiatrie durchgeführtes Euthanasie- Programm ermordet.

Aktuell unterliegt die wissenschaftliche Wahrheitsproduktion zwar nicht mehr der rassistischen "Blut und Boden Ideologie". Die in Mißkredit geratene Eugenik nennt sich nach 45 Humangenetik, fusioniert mit der Medizin und kommt als "neutrale Wissenschaft" daher. Trotz aller Bemühungen empirischer Orientierung, die für den objektiven Wahrheitsgehalt bürgen soll, geht es gleichwohl um eine Ideologie der "Menschenverbesserung". Die Methoden haben sich gewandelt, das Ziel der Ausmerze von menschlich Unerwünschten bleibt: Setzte der NS-Staat noch hemmungslos Repression und Zwang ein, um seine Rassenideologie durchzusetzen, funktioniert der moderne Rassismus ganz demokratisch im Sinne persönlicher Freiheit über das Versprechen Gesundheit. Durch die unterstellte Rezessivität von Erbkrankheiten wird jeder Mensch zum Risiko, solange nicht das Gegenteil durch Tests bewiesen ist. Frauen, die sich aufgrund ihrer diagnostizierten genetischen Disposition für Brustkrebs vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, sind Ausdruck eines medizinischen Glaubenssystems, das den Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit zugunsten der latenten Krankheit aufhebt. Jeder steht folglich unter Verdacht und erhofft sich seinen "Freispruch" nach wahrgenommener Vorsorgeuntersuchung.

Das Spiel mit der Angst und dem Begehren jedes Einzelnen eröffnen der mit der Pharmaindustrie kartellierenden Medizin einen gigantischen Markt. Nicht zuletzt misst sich wissenschaftlicher Erfolg heute zunehmend mehr am wirtschaftlichen Erfolg. Daraus ergeben sich Verflechtungen, die aktuell in einer Kommerzialisierung der natürlichen Genausstattung des Menschen ihren Höhepunkt finden: seit dem 1. September 99 sind gemäß dem Europäischen Patentamt menschliche Gene und Zellen als Patente zugelassen. Die medizinische Genomik nimmt ihren Lauf. Mittels Gentests werden Mutationen identifiziert und erbliche Dispositionen diagnostiziert, um in der Folge mit sehr fragwürdigen Erfolgen mit gentherapeutischen Verfahren zu experimentieren. Es ist kein Zufall, daß das 1988 konzipierte EG Forschungsprogramm "Prädiktive Medizin" schließlich zwei Jahre später unter dem neutraleren Namen "Analyse des menschlichen Genoms" gestartet wurde. Da es an therapeutischen Möglichkeiten mangelt, werden die neuen Erkenntnisse vor allem präventiv verwendet werden. Prädiktive wie präventive Medizin verweisen in ihrer Anwendung auf eine negative und positive Eugenik, die aktuell weniger den Phänotypus als den Genotypus avisiert. In diesem Rassismus ohne Rassen stiftet die Diagnose Schicksal – vor allem, wenn als Therapie nur die (soziale) Eliminierung der Krankheit gleich der Person zur Verfügung steht. Umgekehrt wird es möglich "gesundes", biologisch hochwertiges Erbgut gleich dem Projekt Lebensborn zu vervielfältigen oder es gleich zur Klonierung freizugeben.

Die Psychiatrie nimmt seit ihrem Bestehen eine prädestinierte Stellung in der Förderung eugenischer Modelle ein, insofern sie als Ordnungsmacht auf die Norm geistiger Gesundheit verweist. Abweichendes Verhalten gerinnt durch Systematisierung von Krankheitsbildern und Diagnostik zur "Geistes-Krankheit" und liefert fortan biologische Antworten auf soziale Fragen. Das Recht flankiert die Definitionsmacht psychiatrischer Erklärungsmodelle und sorgt zum Beispiel durchs Psych. Kg für dessen politische Umsetzung. Zugleich entlastet die Psychiatrie einen mit den sozialen Konflikten überforderten juridischen Apparat, indem sie dessen Entscheidungen mit scheinbar objektiven wissenschaftlichen Erklärungsmodellen menschlichen Verhaltens legitimiert. Erst die Allianz aus Medizin und Recht mittels der Psychiatrie als moderne "Verhaltenswissenschaft" ermöglicht eine effiziente Erstellung von gesellschaftlich erwünschten Normalitäts-Profilen, indem sie Gesundheit zur Norm erhebt und – das ist der Clou – Norm als Gesundheit definiert. Die Verhaltensgenetik schreitet währenddessen voran, Kriminalität, affektive Psychosen, Schizophrenie, Alkoholismus, Intelligenz und Homosexualität erneut biologistisch zu erklären. Das Versprechen von Gesundheit – vor allem geistiger – eröffnet angesichts der komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse einen immensen Markt, um den neben der Industrie zunehmend auch alternative Anbieter (Sozialarbeiter, Psychologen etc.) konkurrieren.

Die medizinische Psychiatrie ist nicht zuletzt durch ihre jahrelang vorbereitete double-bind Drogenkampagne (Verordnung von Psychopharmaka bei gleichzeitigem Verbot von das Bewußtsein berauschenden "Drogen") gut im Rennen um die Pfründe des Gesundheitsmarktes. Die pharmazeutische Industrie nimmt Einfluß durch Finanzierung von Forschungsaufträgen, subventioniert und gestaltet Kongresse, Publikationen und andere Dienstleistungen und wirbt mit "wissenschaftlichen" Informationen durch Pharmavertreter. Life science heißt die neue Werbestrategie einer millionenschweren Industrie, die mit einem futuristisch, humanistisch klingenden Slogan radikale Biopolitik (Foucault) betreibt. Medizin und Psychiatrie funktionieren innerhalb dieses Systems im Sinne einer Verkehrspolizei und sorgen dafür, daß jeder Mensch allein "durchs" Leben zur Kasse gebeten wird. Gleich ob er Pharmaka konsumiert, sich mittels Organspende konsumieren läßt oder die Tauglichkeit seiner Gene für die Nachkommen checken läßt: die Lebens-Wissenschaft erfaßt mittels der Ware Gesundheit jeden.

Wir wenden uns entschieden gegen eine "Lebens-Wissenschaft" in den Händen von Medizin, Psychiatrie und Bioindustrie, die philosophische und metaphysische Dimensionen des Lebens auf den Begriff des genetischen Kodes der DNA reduziert. Ein System, so Baudrillard, indem sich unser Sein erschöpft in einer molekularen Verkettung und seinen neuronalen Windungen, indem es keine Seele mehr gibt. Mit Zweifel an der Unabhängigkeit naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche behaupten wir, daß der Mensch mehr ist, als die Summe seiner Gene. Das heißt nicht, Wissenschaft auf einen sozialen und kulturellen Kontext zu reduzieren, denn die soziologische Frage läßt sich seit dem Auftreten der Eugenik nicht mehr von der technologischen abkoppeln (Virilio). Aber es bedeutet Wissensproduktion im Zusammenspiel von historischen Möglichkeiten, kulturellen Bedingungen und politischen Interessenlagen zu reflektieren, und die Wendungen und last not least die Verwendung des Wissens zu beeinflussen. Die Zukunft, so wie sie uns verkauft wird, wagen wir anzuzweifeln. Einer durch kulturelle Iatrogenesis (Illich) gesicherten "Brave new World" (A. Huxley) sehen wir mit Schrecken entgegen.

Aus aktuellem Anlaß gilt es, einer Allianz von Medizin, biologischer Psychiatrie und Bioindustrie hinsichtlich ihres sich ausbreitenden Netzes von Wissen und Macht gegenzusteuern. Es geht darum, der Biologisierung des Geistes mitsamt seiner Medikalisierung von sozialer Abweichung, Verhaltensabweichung und Irr-Sinn ein offenes Konzept entgegenzusetzen. GEIST GEGEN GENE bietet ein Forum zur Zukunft des Menschen, das soziale Phantasien befördert und auf interdisziplinären Austausch setzt. Jenseits utilitärer Marktlogiken erlauben wir uns den Luxus, nach philosophischen und sozialen Utopien zu fragen. Dazu laden wir sie herzlich ein.

Aktuelle Anlässe

Mit voranschreitender Kommerzialisierung der Biowissenschaften steigt die Gefahr, dass der Wert von Menschen an der Qualität ihres Erbguts gemessen wird: eine Aufwertung des "Gesunden" geht mit der Abwertung des "Kranken" einher. Menschliches Leben mit Gendefekten wird diskriminiert. Ein Rassismus ohne Rassen auf der Basis von Genprofilen wird vorangetrieben. Die zur Zeit noch in Deutschland verbotene Methode der Präimplantationsdiagnostik (PID) bereitet den Weg zu einer pränatalen Eugenik, deren Auslesekriterien weitgehend uneinsehbar sind. Sie folgen den neusten biologischen und medizinischen Erkenntnissen. Doch was soll mit den Erbanlagen passieren, die als nicht zukunftstauglich deklariert werden? Die potentielle Selektion maßgeschneiderter Nachkommen setzt vor allem Behinderte Diskriminierungen aus, weil der Anschein erweckt wird, sie trügen selbst die genetische Verantwortung ihres Andersseins in sich.

Prädispositionen für bestimmte Krankheiten sollen auf Dann-Chips bei allen Menschen gespeichert werden können. Welche psychosozialen Folgen ergeben sich daraus für den einzelnen? Was passiert mit diesem Wissen? Was bedeuten die neuen Erkenntnisse biogenetischer Techniken unter Ausblendung der Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Erbanlagen für die Bewertung geistiger Gesundheit, bzw. Normalität? Eine brisante Frage angesichts der Tatsache, dass politisch Verfolgte und Andersdenkende nach wie vor aufgrund fragwürdiger Diagnosen in der Psychiatrie sicherheitsverwahrt werden, wie es Beispiele in aller Welt belegen.

Die Selektion von nicht als normgerecht empfundenen Leben hat in Deutschland eine verhängnisvolle Geschichte: Genozide werden stets mit geneologisch biologischer Minderwertigkeit begründet, wie es neuere Beispiele - wie Ruanda - zeigen. Die Biotechnik liefert die Argumente. Eine globale wirtschaftliche und militärische Nutzung des "genetic engineering" wird bereits praktiziert. Das in Stanford inaugurierte Human-Genom-Diversitäts-Projekt forscht mit dem Ziel, die Variation in den Gensequenzen der verschiedenen ethnischen Gruppen der Erde zu untersuchen. Deren Ergebnisse können dafür gebraucht werden, willkürlich bestimmte Gruppen zu diskriminieren. Die 1987 von der Unesco verfasste Deklaration, dass niemand wegen seiner geburtlichen Eigenschaften benachteiligt werden dürfe, und dass das menschliche Genom nicht dem kommerziellen Profit dienen darf, wird missachtet. Die Patentierung des menschlichen Erbgutes schreitet voran wie die Arbeit an chemischen und biologischen Kampfstoffen, die direkt im Erbgut aktiv werden. Die Erbgesundheitsfrage gewinnt in Hinblick auf einen genetischen Weltatlas an neuer Brisanz. Biopiraterie in den Entwicklungsländern ist ebenso zu befürchten wie medizinische Versorgungsengpässe in den modernen Ländern, die durch den geschützten Besitz von Patenten verursacht werden.

Das Symposion beschäftigt sich mit Fragen, die von größter Bedeutung für die Zukunft der Menschheit sind. Der Information- und Diskussionsbedarf wächst mit der temporeichen Entwicklung biotechnologischer Möglichkeiten. Reproduktionsmedizin, Präimplantationsdiagnostik und Gentechnik beeinflussen das Selbstverständnis des Menschen fundamental und schaffen eine sich schleichend durchsetzende anthropologische Norm. Die ethischen und sozialen Folgen der Biotechnologie mit all ihren juridischen Konsequenzen einer neuen Gesellschaftsordnung geraten ins Hintertreffen. Entsprechende Diskurse gelangen nicht selten als Begleitforschung zur Legitimation der neusten Technologien ins Licht der Öffentlichkeit. Welche Verschiebungen im Selbstverständnis des Menschen finden derzeit statt? Das Symposion Geist Gegen Gene widmet sich jenen Fragen, die in der materiellen Bio-Logik des Geistes nicht vorkommen. Trotz Phrenologie, Elektroenzephalographie (EEK), Kernspinresonanz und Positronen-Emissions-Tomographie weiß bisher niemand, was den Geist des Menschen ausmacht. Obgleich die genannten Verfahren das Recht für sich beanspruch(t)en, über die geistige Befindlichkeit der untersuchten Patienten folgewirksame Diagnosen zu erstellen. Geist Gegen Gene dreht die Fragen um: Uns interessieren die erkenntnistheoretischen Prämissen einer zu hinterfragenden biogenetischen Logik körperlicher und geistiger Gesundheit. Welche Phantasien verbergen sich dahinter? Mit welchen Versprechungen werden Wünsche und Bedürfnisse der Menschen ins Zirkulieren gebracht?

Elke Heitmüller

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